meinbezirk.at: Ex-Präsident der ukrainischen Nationalbank im Interview

Der aus der Ukraine geflohene ukrainische Bankmanager Kyrylo Shevchenko war von 2020 bis 2022 Präsident der Nationalbank der Ukraine sowie vom 17. August 2020 bis 25. Oktober 2022 Mitglied des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats seines Landes. Im Gespräch mit den RegionalMedien Austria beantwortet er Fragen zum Thema Inflation und Arbeitsmarkt in Österreich. Der wirtschaftliche Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg könnte Shevchenkos Ansicht nach zu einem der größten Projekte auf dem europäischen Kontinent werden. Dabei sieht er auch große Chancen für die österreichische Wirtschaft.

ÖSTERREICH. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und dem gewaltvollen Krieg sind tausende Ukrainerinnen und Ukrainer nach Österreich geflüchtet. Wie er Wege aus der Inflation sieh, welche wirtschaftlichen Chancen Österreich im Vergleich zu Deutschland hat, und wie Österreich vom Kriegsende profitieren könnte, erklärt Shevchenko im Interview.

RegionalMedien Austria: Zwar ist die Inflation in Österreich im Sinken begriffen, doch immer noch ist sie im Vergleich zum restlichen EU-Raum hoch. Geht unsere Regierung einen falschen Weg bei der Bekämpfung und wenn ja, was macht sie Ihrer Einschätzung nach falsch?
Kyrylo Shevchenko: Die Inflation ist in Österreich im Vergleich zu anderen EU-Ländern lag im Februar mit elf Prozent im Mittelfeld aller Länder. EU-weit liegt die Inflation bei 9,9 Prozent. In Ungarn beträgt die Inflation 25,8 Prozent, in Lettland 20,1 Prozent. Der von Russland im Februar 2022 begonnene Krieg gegen die Ukraine hat zu hohen Preisen für Energie und Nicht-Energie geführt, was die Hauptursache für den Anstieg der Inflation ist. Der Preisanstieg wird jedoch durch die im Dezember 2022 in Kraft getretene Strompreisobergrenze deutlich abgemildert. Die Strompreisobergrenze subventioniert den Verbraucherpreis für Strom von Dezember 2022 bis Juni 2024.

Deswegen lässt sich nicht sagen, dass die Regierung untätig ist. Vielmehr können wir von einer verzögerten Reaktion der Europäischen Zentralbank sprechen, die für die Preisstabilität in der Eurozone verantwortlich ist. Lange Zeit ging sie davon aus, dass es sich bei der Inflation um ein vorübergehendes Phänomen handelt, und begann erst später als nötig damit, die Politik strenger zu gestalten.

Es ist erwähnenswert, dass in Österreich das Inflationsmanagement an die Europäische Zentralbank ausgelagert ist, die nur indirekt von der österreichischen Zentralbank abhängig ist. Diese Situation steht in krassem Gegensatz zu EU-Ländern, die ihre “geldpolitische Unabhängigkeit” bewahrt haben, wie Polen, die Tschechische Republik und Schweden (obwohl auch diese Länder die Inflation mit unterschiedlichem Erfolg bekämpft haben).

Darum verlangt die Gesellschaft, dass die Regierung die Inflation bekämpft, denn die Europäische Zentralbank ist scheinbar “weit weg” und die Regierung ist nah. Doch die Instrumente der Regierung sind begrenzt. Sie kann Inflationsprozesse in bestimmten Waren- und Dienstleistungsgruppen beeinflussen, nicht aber die Entwicklung der Inflation bestimmen.

Laut Prognosen der OeNB wird das reale BIP Österreichs im Jahr 2023 um 0,6 % wachsen, während für Deutschland ein Rückgang um 0,5 % prognostiziert wird. Woran liegt das?
Was für konkrete Auswirkungen des Kriegs Russlands gegen die Ukraine muss man punkto Wirtschaft in Österreich heuer noch erwarten, wenn sich die Lage nicht ändert bzw. verschlimmert?
Es ist schwierig, darüber zu sprechen, ohne ein tiefes Fachwissen über die österreichische und deutsche Wirtschaft zu haben. Ich gehe davon aus, dass die österreichische Wirtschaft seit 2017 viel schneller wächst als die deutsche. Dieser Trend wurde nur während der Coronavirus-Pandemie aufgrund von Quarantäne in den für die österreichische Wirtschaft besonders wichtigen Dienstleistungssektoren unterbrochen.

Zwischen 2017 und dem dritten Quartal 2022 war das reale BIP-Wachstum in Österreich um 4,5 Prozentpunkte höher als in Deutschland, was erstaunlich ist, weil die österreichische Wirtschaft immer noch stark mit der deutschen verflochten ist. Die Hauptgründe für den Wachstumsunterschied zwischen den beiden Ländern:

Erstens ist die Entwicklung des industriellen Sektors ein wichtiger Erklärungsfaktor. Deutschland fällt bei der Industrieproduktion immer weiter hinter Österreich zurück. Der Automobilsektor spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Die schwache Leistung der deutschen Automobilindustrie lässt sich zum Teil durch bestimmte Faktoren wie den Emissionsskandal bei Volkswagen erklären, ist aber auch das Ergebnis des späten Einstiegs der Branche in die Elektromobilität. Dies wird dadurch erschwert, dass die Automobilindustrie in Deutschland einen wesentlich größeren Anteil an der Gesamtwertschöpfung hat als in Österreich. Der größte Teil des differenzierten Wachstums des Sektors bis Ende 2020 ist auf die Automobilindustrie zurückzuführen. Seit Anfang 2021 haben auch die Elektro- und Elektronikindustrie, der Maschinenbau und die Metallurgie zum Wachstumsgefälle beigetragen. Die unterschiedliche Entwicklung in den exportorientierten Branchen spiegelt sich auch im Exportwachstum wider. Die realen Warenexporte Deutschlands wuchsen von 2017 (Jahresdurchschnitt) bis zum dritten Quartal 2022 nur um 6 Prozent, in Österreich dagegen um 18 Prozent.

Zweitens ist es die stärkere Integration Deutschlands in internationale Märkte außerhalb Europas, deswegen haben sich die internationalen Handelsstreitigkeiten und Chinas Kampf mit den Folgen seiner Null-Toleranz-Politik in Bezug auf COVID-19 sowie die Immobilienkrise stärker dämpfend auf die deutsche Wirtschaft ausgewirkt. Laut einem Bericht der Österreichischen Nationalbank (OeNB) ist China mit einem Anteil von 7,6 Prozent an den Exporten das zweitwichtigste Exportziel Deutschlands (für Österreich steht China mit einem Anteil von 3 % auf Platz 10). Insgesamt gingen im Jahr 2021 rund 46 Prozent der deutschen Exporte in Länder außerhalb der EU (Österreich: 31 %). Die stärkeren außereuropäischen Lieferkettenverbindungen Deutschlands erklären auch, warum deutsche Unternehmen stärker von globalen Lieferkettenengpässen betroffen sind als ihre österreichischen Kollegen. Neben der stärkeren globalen Verflechtung Deutschlands und der wichtigen Rolle der Industrie weisen auch andere Indikatoren auf strukturelle Unterschiede zwischen der deutschen und der österreichischen Wirtschaft hin:

Deutschland ist stärker von der Alterung der Bevölkerung betroffen als Österreich. So lag der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter im Jahr 2021 bei 34,2 Prozent, während er in Österreich bei 28,9 Prozent lag. Ein weiterer Indikator: 41 Prozent der Industrieunternehmen in Deutschland berichteten im Oktober 2022 über einen Arbeitskräftemangel, während es in Österreich nur 22 Prozent der Unternehmen waren. Zudem ist das Produktivitätswachstum im verarbeitenden Gewerbe in Österreich seit 2000 deutlich stärker als in Deutschland. Infolgedessen sind auch die österreichischen Löhne stärker gestiegen, was bedeutet, dass sich die Lohnstückkosten in beiden Ländern ähnlich entwickelt haben. Die Investitionen im Verhältnis zum BIP sind in Deutschland seit 1995 im Durchschnitt rund drei Prozentpunkte niedriger als in Österreich. Bei den öffentlichen Investitionen, die für die Infrastruktur wichtig sind, war die Quote in Deutschland im Durchschnitt um 0,7 Prozentpunkte niedriger als in Österreich.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Deutschland im Vergleich zu Österreich stärker unter der Alterung der Bevölkerung und einem angespannteren Arbeitsmarkt leidet. Aufgrund seiner stärkeren globalen Verflechtung war das Land stärker von der globalen Wachstumsschwäche, den Unterbrechungen der Lieferketten und protektionistischen Tendenzen betroffen. Darüber hinaus ist Deutschland seit einiger Zeit mit einem Rückstand bei den privaten und öffentlichen Investitionen konfrontiert. Schließlich steht der Industriesektor, der die wichtigste Quelle der Wertschöpfung des Landes darstellt, aufgrund des geringeren Produktivitätswachstums und anderer spezifischer Faktoren zunehmend unter Druck. Vor diesem Hintergrund wird für die deutsche Wirtschaft im Jahr 2022 ein deutlich geringeres Wachstum (1,8%) als für die österreichische Wirtschaft (4,9%) prognostiziert. Im Jahr 2023 wird für Deutschland eine Rezession mit einem Rückgang des realen BIP um 0,5 Prozent erwartet, während für Österreich ein Wirtschaftswachstum von 0,6 Prozent prognostiziert wird. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass ich kein Experte für die österreichische und deutsche Wirtschaft bin.

Für 2023 wird in Österreich ein Lohnzuwachs von 7,2 Prozent prognostiziert. Wie passt das mit der hohen Inflation zusammen?
Man muss die Konsequenzen von Russlands Krieg gegen die Ukraine für die österreichische Wirtschaft berücksichtigen. In erster Linie führt der Krieg Russlands gegen die Ukraine zu globaler geopolitischer Unsicherheit und zu einem Anstieg der globalen Risikoprämie, der sich vor allem in der Region Mittel- und Osteuropa bemerkbar macht. Dies hat zur Folge, dass erhebliche negative Effekte auf die österreichische Wirtschaft übertragen werden.

Meiner Meinung nach könnte das österreichische Finanzsystem sogar ein Nutznießer dieser Prozesse sein und als sicherer Hafen fungieren, insbesondere vor dem Hintergrund der Bemühungen der Schweiz, ihr Bankensystem zu unterstützen.
Die Folgen des Krieges sind vielfältig, und wenn sich die Lage nicht bessert, wird sie die österreichische Wirtschaft über mehrere Kanäle beeinflussen:
– Höhere Preise für in der Ukraine produzierte Lebensmittel, was die Inflation hemmen wird
– Der Krieg in Europa hält die Volatilität und die Risiken für Investitionen hoch
– Insgesamt werden die geopolitischen Spannungen die Erholung der Weltwirtschaft, in die Österreich stark eingebunden ist, behindern. 

Der ukrainische Finanzmarkt ist trotz widrigster Umstände nicht kollabiert. Woran liegt das und was können sich österreichische Geldinstitute abschauen?
Die Forderung der Arbeitnehmer nach deutlichen Lohnerhöhungen angesichts der hohen Inflation hat eine lange Tradition. Die Frage ist, ob sich die österreichischen Unternehmen dies leisten können, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit zu beeinträchtigen, und ob sie die entsprechenden Produktivitätssteigerungen erzielen können. Die europäische Wirtschaft und die Währungsbehörden, vertreten durch die EZB, stehen heute vor der klassischen Herausforderung der Spirale “Inflation – Lohnwachstum – Verschlechterung der Erwartungen”. Um diese Spirale durchzubrechen und das Inflationsziel von zwei Prozent wieder zu erreichen, muss die EZB ihre Geldpolitik trotz der Risiken für die Finanzstabilität weiter straffen.

Die Österreichische Nationalbank prognostiziert, dass die Kollektivvertragslöhne im Jahr 2023 um beachtliche 7,2 Prozent gegenüber 2022 steigen werden. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Kollektivvertragslöhne in der Regel die Inflation der letzten zwölf Monate widerspiegeln. Im Jahr 2024 wird der Anstieg der Kollektivvertragslöhne mit knapp sechs Prozent geringer ausfallen, und das bei langsamem Wirtschaftswachstum, mäßigem Produktivitätszuwachs und sinkender Inflation. Dennoch wird sich der Anteil der Löhne am BIP nach einem starken Rückgang im Jahr 2022 weiter erholen. In realen Werten werden die Löhne im Jahr 2024 um beachtliche 2,2 Prozent steigen, was vor allem auf die niedrigere Inflation zurückzuführen ist. Dies ist ein positives Signal.

Die Schlussfolgerungen für österreichische Finanzinstitutionen zur Resilienz der Ukraine:
– Pläne für unvorhergesehene und katastrophale Ereignisse zu haben
– Ausreichende Puffer und Sicherheitsmargen zu haben
– Mit Kunden über alle verfügbaren Kanäle zu kommunizieren
– Sogar mit Wettbewerbern zusammenzuarbeiten, um das Gesamtsystem zu unterstützen.
Zunächst einmal sollten die Tail-Risiken nicht unterschätzt werden. Investitionen in einen unterbrechungsfreien Betrieb sind wichtig, um das Vertrauen der Kunden zu erhalten. In der Ukraine haben sich diese Risiken in einem extremen Ausmaß verwirklicht. Doch selbst in einem stabilen Umfeld sollten wir Cyberrisiken, potenzielle von Menschen verursachte Katastrophen, die zu Stromausfällen führen können, usw. nicht vergessen. 

Am 1. Februar verlängerte das österreichische Parlament das Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge aus der Ukraine um ein weiteres Jahr. Was bedeutet diese Gruppe für den Finanzplatz Österreich?
Nach der groß angelegten Invasion sind 96.000 Ukrainer nach Österreich gekommen. Österreich gehört nicht zu den größten Aufnahmeländern von Migranten – die vergleichbare Zahl für Deutschland beträgt mehr als 1 Million und für Polen 1,5 Millionen. Dennoch stellen ukrainische Migranten eine wichtige Quelle für Arbeitskräfte dar. Laut Oesterreichischer Nationalbank (OeNB) wird auch die Ankunft und schrittweise Integration ukrainischer Flüchtlinge (35.000 zwischen 2022 und 2025) in den Arbeitsmarkt das Arbeitskräfteangebot erhöhen.

Welche Chancen lässt Österreich in Bezug auf ukrainische Kriegsflüchtlinge, die in Österreich leben, dennoch liegen?
Wie ich bereits erwähnt habe, stellen ukrainische Migranten ein zusätzliches Angebot an hochwertigen Arbeitskräften dar. Außerdem glaube ich, dass sie die Integration der österreichischen und ukrainischen Wirtschaft stärken können. Der wirtschaftliche Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg könnte zu einem der größten Projekte auf dem europäischen Kontinent werden, und die Herstellung von Geschäftsbeziehungen zu ukrainischen Unternehmen durch Migranten könnte österreichischen Unternehmen einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil bei der Suche nach einer Rolle in diesem Prozess verschaffen.

Source: MeinBezirk

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